LISA ANDERGASSEN / JAN-HENNING RAFF

FOTOGRAFISCHE ALLTAGSREKONSTRUKTIONEN: GESTERN, HEUTE, MORGEN
Photographic Reconstructions of the Everyday: Yesterday, Today and Tomorrow


Die Planstadt wird oft unter den Aspekten des ökonomischen Verlustes, der Stadtschrumpfung und des architektonischen und ideologischen Anachronismus besprochen. Einschlägige dokumentarische Fotografien heben die Modellhaftigkeit von Eisenhüttenstadt hervor und schaffen ein Bild, das vor allem repräsentativen Charakter hat. Ein Blick auf den Alltag verschiebt dieses Bild und eröffnet andere Perspektiven auf die Planstadt zwischen Lebensraum und Erinnerungsort.

Lisa Andergassen und Jan-Henning Raff erschließen diesen Zwischenraum über eine Spurensuche in der fotografischen Darstellung der Stadt. Fotografie ist dabei nicht bloßes dokumentarisches Werkzeug, sondern Medium, das Fragmentarisches und Unvermutetes einzufangen vermag, weil sich das von Walter Benjamin beschriebene „winzige Fünkchen Zufall“ in Fotografien fast zwangsläufig miteinschreibt: Dinge und Personen, die nicht gemeint waren, als die Aufnahme entstand, tauchen trotzdem im Bild auf, Bewegungen werden im Moment der Auslösung plötzlich vollzogen – hier setzt eine forensische Auseinandersetzung an. Das „Leben“, das in den Fotografien steckt, tritt in den Vordergrund.

Die Suche im Bild richtet sich auf den Bestand mehrerer Archive (Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Stadtarchiv, Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR), ergänzt durch fotografische Erkundungen vor Ort. Dazu tritt mit dem Gefundenen assoziiertes, aktuelles Bildmaterial, das über den Kontext der Planstadt und ihre Geschichte hinausgreift.

Das Bildmaterial wird über seine akzidentellen Momente in einem virtuellen Raum zueinander in Beziehung gesetzt, in welchem Assoziationsräume zwischen den Bildern bzw. Bildfragmenten plastisch werden. In diesen Raum tritt der Betrachter ein und bewegt sich aktiv darin. Die Verknüpfung der Motive wird jeweils zur Blickachse mit frei wählbarem Standort: ein neues Gegenüber entsteht. An dieser Stelle kann auch die Geschichte der Stadt neu und weiter erzählt werden.

Immer wieder tauchen der Stadtraum und seine prägende, klassizistische Architektur im Hintergrund der ausgewählten Motive auf. Hier wird die Stadt einerseits zur Bühne. In der Struktur seiner räumlichen Erfahrung knüpft der erzeugte Bildraum aber auch direkt an den Raum der geplanten Stadt und seine Organisation an.

Der Beitrag wird als Dia-Schau und interaktive Website präsentiert.


Lisa Andergassen ist freie Autorin und Medienwissenschaftlerin. Jan-Henning Raff lehrt Visuelle Kommunikation und Designforschung an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin.