MATTHIAS WARKUS

PLATZ - HÜTTE - PALAST
Überlegungen zu Architektur, Philosophie, Öffentlichkeit

Wenn sich die Philosophie mit Architektur beschäftigt, geht es oft um zwei große Themen: das gute, ‚wirkliche‘ Wohnen; und die gute, ‚wirkliche‘ Öffentlichkeit. Liest man einschlägige Texte, kann man den Eindruck gewinnen, dass wir heutzutage nicht bloß alle falsch wohnen, sondern dass es auch bestimmte wichtige Arten von Öffentlichkeit gar nicht mehr gibt, und dass Architektur und Städtebau dazu beitragen könnten, dies wieder zu ändern. Es liegt nahe, das Projekt ‚Eisenhüttenstadt‘, die ehemalige Modellstadt, unter diesen Vorzeichen zu betrachten. Matthias Warkus bringt in seinem Vortrag Gedanken u.a. von Ludger Schwarte und Martin Heidegger sowie eigene Videoaufnahmen aus Eisenhüttenstadt zusammen.


Dr. Matthias Warkus

ist ausgebildeter Philosoph und lebt als freier Publizist und Redakteur in Jena. Er ist Lehrbeauftragter an der Friedrich-Schiller-

Universität Jenaund an der Bauhaus-Universität Weimar. Dort war er unter anderem an der Entwicklung eines

architekturphilosophischen Stadtrundgangs  durch Weimar beteiligt.


 
Eisenhüttenstadt, 5.9.2020


Ich möchte zu Anfang etwas dazu sagen, von welchem Ort aus ich heute spreche. Ich bin kein Architekt, kein Stadtplaner, kein Sozialwissenschaftler und auch kein Künstler. Ich bin ausgebildeter Philosoph und habe mich in den letzten fünfzehn Jahren vor allem mit Zeichen und Handeln beschäftigt. Also mit der Frage danach, wie es überhaupt funktioniert, dass irgendetwas irgendetwas anderes bedeutet, und das vor allem in der Hinsicht, wie dies damit zusammenhängt, dass Menschen, salopp gesagt, irgendwelche Dinge tun.

Außerdem interessiere ich mich für Architektur, seit ich denken kann, und habe mich in den letzten Jahren intensiv damit beschäftigt, was das mit Philosophie zu tun haben kann. Ich spreche hier aber als Philosoph und nicht als Experte für irgendein planerisches Thema, auch nicht als Sozialwissenschaftler. Als Philosoph steht man immer in der Gefahr, dass das, was man sagt, banal oder unverständlich gefunden wird. Ich hoffe, dem kann ich heute entgehen.

Gut. An diesem Punkt stehe ich also. Was habe ich nun vor, von diesem Punkt aus zu tun?
Ich möchte im ersten Teil meines Vortrages über vier große Begriffe reden, die im Nachdenken über Architektur eine Rolle spielen, ihre Beziehung zueinander und die Fragen, die sie aufwerfen. Im zweiten Teil möchte ich dann versuchen, diese Begriffe und Fragen mit Eisenhüttenstadt in Verbindung zu bringen.

An dieser Stelle auch noch eine weitere Vorbemerkung: Wenn ich Architektur sage, meine ich damit immer auch Städtebau, Stadtentwicklung und zu einem gewissen Grade auch Verkehrs-planung. Ich begreife diese Disziplinen hier der Einfachheit halber als Einheit, auch wenn ich weiß, dass sie das in der Praxis längst nicht sind.

Was sind nun die vier Begriffe, die ich vorstellen möchte? Es sind


Ermöglichen
Passen
Öffentlichkeit
Wohnen


Was haben diese Begriffe miteinander zu tun? Wenn wir uns philosophische Texte über Architektur anschauen oder auch nur journalistische Beiträge dazu, dann wird oft normativ über Architektur geredet, in dem Sinne, dass entweder bestehende Gebäude oder städtebauliche Anlagen bewertet werden oder dass Ziele dafür aufgestellt werden, was Architektur in Zukunft leisten soll. Es geht immer darum, wie man bauen soll oder sollte. Dass man handwerklich gut, ökologisch nachhaltig, technisch sicher und so weiter bauen sollte, kann man als selbstverständlich voraussetzen. Die Kriterien sind andere, sie gehen darüber hinaus. Ein gerne herangezogenes Kriterium dabei ist Ermöglichung. Architektur ist dann gelungen und gut, wenn sie Bestimmtes ermöglicht.
 
Das Ermöglichen scheint so wichtig bei Architektur, dass der Architekturphilosoph Ludger Schwarte sie ganz allgemein als ein


»Bauen von Umwelten als eine Art der Möglichkeitskonstruktion«    

(Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur, München 2009, S. 11)


bezeichnet hat. Dazu kann man sich dann fragen: Was heißt es überhaupt, dass Architektur irgendetwas ermöglicht? Und was genau soll sie ermöglichen?


Ein zweites Kriterium ist Passung. Architektur soll nicht nur ermöglichen, sondern sie soll auch passen. Gebäude sollen sich ins Stadtbild und in die Landschaft einpassen, dazu müssen sie zu anderen Gebäuden passen; städtebauliche Anlagen wiederum sollen zu so etwas wie der historischen Identität oder dem traditionellen Stil einer Stadt oder einer Region passen, vielleicht aber auch zum Geist einer Zeit, vielleicht sogar zu dem Geist der Zukunft. Und natürlich soll alles zu den Menschen passen, die es nutzen, die darin wohnen, damit leben.

Das sind sehr luftige Konzepte, aber wenn wir in Deutschland öffentlich über Architektur diskutieren, ob nun in der Zeitung oder in den sozialen Medien, werden sie immer wieder aufgerufen: Dies oder jenes, was gebaut wird, passt nicht zu einer Stadt, passt nicht zur liberalen Demokratie, passt nicht ins 21. Jahrhundert, passt nicht zusammen mit den Meisterwerken der Vergangenheit und so weiter. Die häufigen Bezichtigungen von Bauprojekten als »seelenlos«, »leblos«, »tot« oder »kalt« lassen ahnen, dass für viele Menschen Architektur außerdem insgesamt Leben, Seele, Wärme ermöglichen oder dazu passen soll – was auch immer das heißt.


WAS HEISST, DASS ARCHITEKTUR ETWAS ERMÖGLICHT ODER ZU ETWAS PASST?


Wie entscheidet sich nun überhaupt, ob etwas etwas ermöglicht oder etwas auf etwas passt?
Solange es um Verhältnisse zwischen Gegenständen geht, sind das sozusagen rein technische Fragen. Die Achsen einer Straßenbahn passen zu ihren Gleisen, daher ermöglichen es die Gleise, dass sie darauf fährt. Eine Berliner Straßenbahn passt nicht auf die Gleise in Frankfurt an der Oder, ihr ist es nicht möglich, diese zu befahren. Eine Treppe ermöglicht es, Menschen, die laufen können, oder beispielsweise auch Katzen, einen Höhenunterschied zu überwinden. Menschen im Rollstuhl oder Staubsaugerrobotern ermöglicht die Treppe dies nicht – weil sie nicht zu ihnen passt.

Wenn wir aber sagen, dass ein Platz, eine Straße oder eine Stadt als Ganzes irgendetwas ermöglicht oder nicht, dann ist dies oft nur in erster Näherung eine technische Frage. Ich kann zum Beispiel sagen: Die Stadt Jena ermöglicht es in nahezu einzigartiger Weise, von überall einen Überblick über das Stadtbild zu gewinnen. Das ist technisch-infrastrukturell völlig richtig, man ist quasi nirgendwo in Jena weiter als einen guten Kilometer von einem Aussichtspunkt entfernt, es gibt ein Netz hervorragender markierter Wanderwege und mindestens sieben Aussichtsgaststätten, wo man, wenn man möchte, zum Panorama auch noch ein Bier bekommt. Aber man muss überhaupt erst einmal auf die Idee kommen, da hochzugehen. Wenn man sich anschaut, wem man da oben auf dem Berg begegnet, erkennt man: Es kommen offensichtlich nicht alle Leute gleichermaßen auf die Idee. Aber liegt das daran, dass man es ihnen nicht ermöglicht hat, auf die Idee zu kommen?

 


Vor dem Küchenfenster unserer Wohnung liegt eine Grünfläche mit einem Grillplatz und einer Bank. Auf dieser Bank sitzt regelmäßig ein altes Paar und hält Händchen, manchmal sitzt da auch eine etwas laute Gruppe von Männern und trinkt, neulich saß dort meine Nachbarin mit ihrem Freund. Die Bank ermöglicht für sie alle etwas. Auf anderen Bänken sitzt nie jemand. Auch hier kann ich fragen: Sitzt dort niemand, weil die Bank unbequem ist? Weil die potenziellen Sitzenden nicht daran denken, dass sie dort sitzen könnten? Oder denken sie daran, haben sich aber dagegen entschieden?




Ein letztes Beispiel. Anderswo in meinem Viertel gibt es großzügige Rasenflächen vor Wohnblocks voller junger Familien. Man meint, diese Rasenflächen sollten es ermöglichen, dass dort kleine Kinder herumtoben.

Es sind aber nie welche zu sehen. Menschen tun nicht notwendigerweise das, was man ihnen ermöglicht.

Für das Zusammenpassen gilt dasselbe: Sobald das menschliche Urteil ins Spiel kommt, ist es keine rein technische Frage mehr. Ob zwei Farben zusammenpassen, ob eine Krawatte oder ein Einstecktuch zusammenpassen, ob ein Neubau in einen Straßenzug passt, ob eine bestimmte Veranstaltung zu einem bestimmten Ort passt, ob eine Burger-King-Filiale in eine bestimmte städtebauliche Situation passt – das sind alles keine Fragen, die sinnvoll an technischen Kriterien zu entscheiden sind.

Es ist aber natürlich auch nicht alles komplett willkürlich. Menschen reden miteinander, Menschen tauschen sich aus, Menschen lassen sich vom Verhalten anderer beeinflussen, Menschen bilden Gewohnheiten aus, Menschen ändern im Laufe der Zeit ihre Meinung.

Dass jenseits der Technik etwas möglich ist oder zwei Dinge zueinander passen, hat immer damit zu tun, wie Gemeinschaften von Menschen denken und handeln. Dass überhaupt etwas etwas anderes bedeutet, geschieht immer dadurch, dass es solche Gemeinschaften gibt.

Also gut. Architektur soll etwas ermöglichen. Was soll sie ermöglichen? Da gibt es zwei beliebte Antworten: Öffentlichkeit – aber nicht irgendeine, sondern die richtige – und Wohnen – auch nicht irgendeines, sondern das gute. Zum Thema Wohnen möchte ich Ihnen eine in der Architekturphilosophie recht beliebte und bekannte Idee vorstellen. Es ist die Idee einer sogenannten »ethischen Funktion der Architektur«, die eigentlich vor allem eine bestimmte Vorstellung von Wohnen ist. Ein Schlüsseltext dafür ist Martin Heideggers Vortrag »Bauen, Wohnen, Denken« von 1951, an den insbesondere der deutsch-amerikanische Philosoph Karsten Harries angeschlossen hat.



Diese Art von Denken über das Wohnen ist letztlich eine melancholische: Wir haben verlernt zu wohnen. Die an Heidegger anschließenden Gedanken anderer Architekturphilosophen mögen konkreter und weniger mythisch verbrämt daherkommen, aber die Idee ist immer dieselbe: Es gilt, in einer Weise zu bauen, die uns wieder erlaubt, richtig zu wohnen. Es geht ums Ermöglichen: Architektur soll uns ermöglichen, unseren Ort in der Welt zu finden und dort ein gelingendes Leben zu führen, aber die aktuelle Architektur ermögliche dies leider nicht.


[W]ir träumen weiter von einem wirklichen Zuhause, von einer Architektur, die stark genug ist, um uns unseren Ort zuzuweisen und uns von der sinnlosen Homogenität des Raumes zu erretten.«

(Karsten Harries, Die ethische Funktion der Architektur, 178)


Ein Gedanke taucht bei Heideggers Schwarzwaldidylle und in Harries’ abstrakter Zusammenfassung nicht auf – die Idee, dass jemand in so einer Umgebung auftauchen könnte, der gar kein Interesse daran hat, das ihm auf so einzigartige Weise ermöglichte Leben zu führen; dass jemand vielleicht keinen »Ort zugewiesen« bekommen möchte. Damit sind wir wieder beim Passen. Die Menschen müssen in eine so strukturierte Umgebung hineinpassen. Oder werden sie passend gemacht? Müssen sie vielleicht sogar passend gemacht werden?

Und das ist nun natürlich kein Gedanke, der nur auf Wohnarchitektur beschränkt wäre. Und man muss auch nicht so konservativ sein, das Leben im Schwarzwaldhof 1750 hochzujubeln, um in solchen Begriffen zu denken. Die Vorstellung, dass das gute Leben bestimmte gebaute Umgebungen braucht, die es ermöglichen, und dass diese Umgebungen uns heute fehlen, findet sich bei linken Kulturkritikern heute genauso wie bei Heidegger 1951, nur unter ganz anderen Vorzeichen.

Ein großer Begriff dabei ist häufig der der Öffentlichkeit. Genauso, wie konservative Architekten und Architekturdenker andauernd beklagen, dass wir verlernt hätten, schön oder wohnlich zu bauen, beklagen tendenziell linke oder sich zumindest als links verstehende Kulturkritiker, dass wir bestimmte Formen der Öffentlichkeit verlernt hätten. Abstrakt, in den Medien, der Literatur, der Kunst; aber ganz konkret und alltäglich auf den Straßen und Plätzen unserer Städte, in der Straßenbahn und am Kneipentisch.

Das angeblichen Verschwinden dieser Öffentlichkeit wird nicht nur, aber auch dem angeblichen Verschwinden öffentlicher Räume angelastet. Will man aber nicht nur klagen, sollte man sagen können, woran denn eine Öffentlichkeit zu erkennen ist, die diesen Namen verdient hat.
Heidegger hat in seinem Zitat glücklicherweise klargemacht, dass das Beispiel für wirkliches Wohnen, das er gibt, nicht als konkretes Ziel gedacht ist, zu dem wir in der Zukunft des Wohnens wieder zurückkehren sollen. Es geht um die Art des Wohnens.

Entsprechend muss man auch sagen: Beispiele dafür, wie Öffentlichkeit im städtischen Raum früher beschaffen war, können nicht als Ziele dafür gelten, wie es wieder werden soll. Aber man muss wenigstens irgendwie allgemein, strukturell sagen können, was man möchte, und nicht nur, was man nicht möchte.

Ich habe aber den vagen Eindruck, dass solche kulturkritischen Überlegungen zu Öffentlichkeit meistens dabei stehenbleiben, dass festgestellt wird, was man nicht möchte. Einkaufen als Freizeitbeschäftigung findet man nicht gut. Einkaufszentren findet man ohnehin nicht gut. Kommerzielle Unterhaltungsangebote genauso wenig.

Ich habe die Intutition, dass die Vorstellungen davon, was denn nun im öffentlichen Raum passieren soll, häufig bei Klischees von Studentenleben, Bohème oder Italienurlaub steckenbleiben: Gruppen musizierender und diskutierender Menschen auf Grünflächen. Spontane Demonstrationen auf dem Marktplatz. Schreibende Literaten im Café. Abends sitzen die Alten im Park und spielen Schach. Im Biergarten redet man sich über Politik die Köpfe heiß. Und natürlich kennt man sich:

 
»[W]o also diese Leute sich kannten, sich trafen, wo kleine Geschäfte waren, Bäcker, Metzger, Schuster und so weiter, was man eben brauchte, wo man ums Eck ging und einen bekannten Sitzplatz fand und so weiter. [… Dazu| gehörte ja auch, dass die Leute also nicht nur jetzt sich am Namen, wie ich gerade sagte, orientierten, das ist unser großer Geschäftsmann, das ist unser Herr Pfarrer, das ist so, aber es gehörte ja auch Nachbarschaftlichkeit dazu.«

(Hannelore Schlaffer im Deutschlandfunk, 21.12.2014)


Im gezeigten Zitat spricht Hannelore Schlaffer nicht etwa von Dörfern oder von Kleinstädten. Sie beschreibt hier ausdrücklich, was sie für das hält, was Großstädte ausmacht. Sie spricht hier von München und Würzburg. Ich sehe dieses Zitat als ein warnendes Beispiel dafür, wie eine gängige kulturkritische Auseinandersetzung mit Stadt, die dafür angetreten ist, die Urbanität zu retten, in Spießigkeit und Kiezidylle abrutscht.

So unterschiedlich Wohnen und Öffentlichkeit verhandelt werden, so ähnlich scheint bei beidem die Gefahr, dass denen, die darüber nachdenken, zu den Idealen, die sie anstreben, konkret nur sehr dörfliche Beispiele einfallen. Manchmal hat man den Eindruck, es geht ihnen vor allem darum, das Wohnen in den öffentlichen Raum zu verlegen.

Es gibt außerdem natürlich noch andere Bezüge von Wohnen und Öffentlichkeit: Bestimmte Weisen des Wohnens interagieren mit bestimmten Weisen von Öffentlichkeit. In einem fünfzehn Quadratmeter großen Zimmer in einer Universitätsstadt zu wohnen, ist für einen Studenten im dritten Semester ein völlig anderes Wohnen als für einen Flüchtling ohne Arbeitserlaubnis oder eine chronisch kranke Frührentnerin, weil er in völlig anderer Weise selbstverständlich in der Öffentlichkeit lebt.

Dabei hat gutes Wohnen und richtige Öffentlichkeit auch wieder mit Passung zu tun: denn gut wohnen kann man natürlich in einer Wohnung, die irgendwie zu einem passt, oder die gar zu »dem Menschen« als solchen passt. Und eine Stadt soll natürlich auch Arten von Öffentlichkeit ermöglichen, die zu den Menschen oder »dem Menschen« passen. Vielleicht geht es sogar noch darüber hinaus – wenn man manche Texte liest, kann man meinen, erst das richtige Wohnen und die richtige Öffentlichkeit ermöglichten überhaupt das richtige Menschsein.

Gut, das war also mein Rundgang durch die Begriffe. Ganz platt gesagt haben wir zwei Idealbilder: auf der einen Seite das Wohnen, das Festgelegte, Heimelige, die verortete, zentrierte, durch die gebaute Umgebung erst sinnerfüllte, strukturierte Existenz. Und auf der anderen Seite das Offene, Wilde, Freie, die Öffentlichkeit, in der irgendwie kreative, spontane, gemeinschaftliche Dinge passieren. Beides ist gekennzeichnet durch bestimmte für gut befundene Arten der Ermöglichung und der Passung.


TEIL II

Jetzt ist die Frage, was wir mit ihrer Hilfe über Eisenhüttenstadt nachdenken können. Damit komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags.

Wir können ganz direkt fragen: Was passt hier? Was passt hier nicht?
Und vor allem: Was soll und was kann hier ermöglicht werden?


PASSUNG

Ich glaube, dass ein großer Teil der Faszination, die von dem Flächendenkmal Eisenhüttenstadt ausgeht, aber auch der Frustration, die dabei immer mitschwingt, damit zu tun hat, dass die städtebauliche Anlage in sich so gut zusammenpasst, aber sonst zu nichts. Die Stile, die Bauweise, die architektonischen und städtebaulichen Elemente gibt es natürlich auch anderswo. Ich habe früher in Jena-Nord gewohnt, das sogenannte Gebiet Nord I sieht dem Wohnkomplex 3 doch in vielem recht ähnlich. Einzigartig sind in Eisenhüttenstadt die Dimensionen und eben, dass es zumindest in der geplanten Kernstadt keine Elemente gibt, die kontrastieren.

Der Stadtkern, das Flächendenkmal, ist, soweit ich das überblicke, zumindest von den Gebäuden her in einem besseren baulichen und optischen Zustand als er je war, die einzelnen Komplexe weisen eine große stilistische Geschlossenheit auf und das Gesamtensemble funktioniert in sich. Der begeisterte Ausruf »Hier kann man vom Ganzen sprechen!«, den Niklas Nitschke von einem Besucher überliefert hat, dokumentiert, wie stark diese Passungsverhältnisse wahrgenommen werden.

Aber eine Stadt ist eben mehr als nur eine Ansammlung von Bausubstanz, mehr als nur eine technische Bedingung. Die Aufladung, die dadurch entstanden ist, unter welchen Umständen Eisenhüttenstadt gebaut wurde und die ersten vierzig Jahre stand, und dass die Stadt bis heute immer vor dem Hintergrund dieser Umstände betrachtet und thematisiert wird, lässt sich nicht wegdenken. Und diese früheren Passungen sind eben alle nicht mehr gegeben, ein politisches System ist untergegangen, die Bevölkerung ist geschrumpft, und ein Stahlwerk ist zwar immer noch eine wunderbare Sache, aber nicht mehr die Speerspitze der wirtschaftlichen Entwicklung.
Ich habe vorhin erwähnt, dass Passungs- und Ermöglichungsverhältnisse immer eine Sache des Denkens und Handelns menschlicher Gemeinschaften sind. Wenn zwei Gegenstücke nicht als zusammenpassend wahrgenommen werden, dann kann man die Stücke ändern oder man kann die Wahrnehmung ändern, damit es wieder passt. Das Flächendenkmal lässt sich nicht ändern und soll auch gar nicht geändert werden; ich weiß nicht, inwieweit die Menschen ihr Denken ändern wollen oder es überhaupt ändern sollen. Vielleicht ist die Passung zwischen der Stadt und dem, von dem man meint, dass es zu ihr passen müsste, nicht mehr herzustellen.


ERMÖGLICHUNG

Eine weitere Intuition scheint mir zu sein, dass etwas, was so groß und so besonders ist wie eine solche planvoll angelegte Stadt, auch etwas Besonderes ermöglichen muss.

Die Frage ist, was das sein kann, und meines Erachtens liegt das relativ nahe, und das ist vielleicht in sich schon wieder ein Problem.

Ludger Schwarte, den ich vorhin schon einmal zitiert habe, hat vor gut anderthalb Jahren in der ZEIT unter dem Titel »Wir brauchen ein Recht auf Paläste« einen Beitrag geschrieben, in dem er feststellt, dass derzeit die meisten Menschen »vom städtischen Leben« ausgeschlossen seien. Um dies zu ändern, fordert er eine »neue architektonische Umwelt« mit »einer Vielzahl konkurrierender Paläste«:

 
»Palastbewohner verschanzen sich nicht, sie zeigen sich und laden ein. Sie beziehen ihre Identität nicht aus dem Wohnort, sondern nutzen verschieden gelagerte Infrastrukturen zur Erholung, zur Kommunikation und zur Ausbildung von Subjektivitäten und Gemeinschaften. Sie stellen deshalb ein Paradigma dar, um [die] Forderung nach urbaner Qualität auf der Ebene individueller Architekturen und Lebensformen zu erfüllen.«


Im Palast, wie Schwarte ihn sich vorstellt, kommen also wieder einmal Wohnen und Öffentlichkeit zusammen.

Man muss nicht lange überlegen, um hier eine Verbindung zu sehen. Ein einziger Spaziergang durch Eisenhüttenstadt reicht, um zu begreifen, dass die Bausubstanz für eine Stadt, die geprägt ist durch eine »Vielzahl konkurrierender Paläste«, die Schwartes Kriterien genügen, hier vorhanden ist. Es sind Wohnungen da und die halböffentlichen Innenbereiche in den Komplexen, hier könnten beliebige Aktivitäten in nahezu beliebig fein abstufbarer öffentlicher Exponiertheit stattfinden. Sogar die dekorative Ausgestaltung, die man herkömmlicherweise bei etwas erwartet, das sich Palast nennt, ist da, oder war es zumindest einmal: Portale, Ornamente, Sichtachsen, Parks, Wasserbecken, Blumenparterres, Baumhaine, symmetrische Anlagen. Bei dem Wanderkonzert vor der Ausstellungseröffnung gestern war dies hervorragend zu erleben.



Die Assoziation zu herrschaftlichem Bauen und Wohnen früherer Epochen ist so naheliegend, dass einem die Rede von den »Palästen« in zahlreichen Medienbeiträgen zum Thema Eisenhüttenstadt immer wieder begegnet. Ansonsten wird in der Berichterstattung immer wieder betont, wie gut die materiellen Randbedingungen seien: vorbildliche Sanierung, gute Versorgung mit Kindertagesstätten und so weiter.

In einem gewissen Sinne hätte diese Stadt in ihrer Anlage also die Ressourcen, etwas zu ermöglichen, was sich Theoretiker für die Zukunft der gebauten Umgebung in unserer Gesellschaft wünschen. Sie ermöglicht es aber nicht; oder wenn sie es ermöglicht, dann findet es offensichtlich nicht statt. Die Stadt ist ja gerade nicht voller »Palastbewohner«, die »sich zeigen« und einladen, sie brummt nicht vor Aktivität und Ungeduld, sie ruht in sich.

Könnte man nun etwas tun, um das zu ändern, um dieses Ermöglichungsverhältnis ein bisschen konkreter zu machen? Soll man es überhaupt tun?


 

Der Dialog aus »Die Schnecke am Hang« gewinnt seine Komik daraus, dass hier utopische Vorstellungen, wie sie schon Ende der 60er-Jahre veraltet und klischeehaft erschienen, geballt auftauchen. Jede Utopie hat ihre eigene Architektur; hier sind es die »Stadien, Schwimmbecken, hängenden Gärten, Biergaststätten und Imbißstuben aus Kristall«. Nicht allein, aber doch auch die Architektur trägt in dieser Utopie dazu bei, es den Menschen zu ermöglichen, durchweg Genies zu sein. Aber auch hier müssen die Menschen hineinpassen – beziehungsweise: Es gibt Bedenken daran, dass sie sich passend machen lassen und nicht lieber an ihren liebgewonnenen alten Gewohnheiten festhalten, auch wenn diese vielleicht ihrer Entwicklung zu Höherem entgegenstehen.

Natürlich kann man diese Kritik auf die Utopien des Realsozialismus beziehen, wie es damals vermutlich beabsichtigt war. Man kann sie aber auch auf die sehr viel kleinteiligeren und vageren Utopien beziehen, die heute mit Stadtentwicklung und Nachdenken über Architektur assoziiert sind. Mir wird immer etwas mulmig, wenn ich irgendwo davon lese, dass irgendetwas ein »Experimentierfeld für kreative Ideen zur Zukunft der Stadt« werden soll oder dergleichen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich irgendwo ein Plakat für die hundertste Ausstellung oder den tausendsten Workshop zum Thema »Wie wollen wir in Zukunft miteinander leben?« sehe, regt mich das zu nichts an außer zum Gähnen. Ich befürchte, dass schon die Festlegung, man möge sich jetzt auf einem Experimentierfeld befinden, als auf bestimmte Weise furchtbar einengend und beängstigend empfunden werden kann.

Ich möchte noch einmal auf Ludger Schwarte zurückkommen, aber nicht auf den etwas unglücklichen Artikel über die Paläste, sondern noch einmal auf sein Buch »Philosophie der Architektur«. Ein Kerngedanke, den er dort entwickelt, ist der, dass die Art und Weise, auf die Architektur – und zwar vor allem die Architektur von Stadtplätzen und öffentlichen Gebäuden – etwas ermöglicht, etwas ermöglichen soll, eben nicht darin bestehen soll, dass durch meisterliche Planer für bestimmte Tätigkeiten in optimaler Weise Bedingungen geschaffen werden, so dass man dazu animiert ist, sie in dem Rahmen zu verrichten. Das Ermöglichen, das er sich vorstellt, ist anarchisch und absichtlich unkontrolliert: Architektur soll Ressourcen für Wahrnehmungen, Bewegungen, Selbsterfahrungen zur Verfügung stellen, in einer Weise, die über das »beherrschte Können« und die direkte oder indirekte Ausübung von Macht hinausgeht.

Andererseits sind unsere Möglichkeiten, zu kontrollieren, was wir ermöglichen, auch begrenzt. Ich möchte Ihnen zum Schluss noch ein Objekt zeigen, das mir schon vor längerer Zeit zuhause in Jena aufgefallen ist.


 
Man kann diese Bank als offene Ermöglichungsstruktur sehen: Hier ist es nicht nur nicht verboten, dass Jugendliche sich auf die Lehne setzen und die Füße auf die Sitzfläche stellen, hier ist es sogar erwünscht. Andererseits kann man sie auch als Bevormundungs- und Lenkungsstruktur sehen: Hier kann man nicht einmal mehr dadurch rebellieren, dass man sich auf die Lehne einer Bank setzt – sondern man tut nur etwas, was die Planer vorgesehen haben, auch wenn es bloß eine Option ist. Wenn man absichtlich etwas ermöglichen möchte, kann man – das befürchte ich jedenfalls – so liberal, offen und unbestimmt mit dem sein, was man ermöglichen möchte; es ist immer noch so, dass man interveniert, dass man beeinflussen möchte.

Was wir für das Denken über Eisenhüttenstadt und unseren Umgang mit diesem Ort mitnehmen können, ist vielleicht: dass man versuchen sollte, eine Weise des Ermöglichens anzustreben, die keine Vorgaben macht. Soweit das überhaupt geht. Auf diese Stadt ist so viel projiziert worden, dass man vielleicht bewusst aufhören sollte, Theorie und Vision auf sie aufzusatteln.

Es ist vielleicht nicht besonders originell für einen Vortrag im Rahmen eines größeren Kunst- und Kulturprojekts, genau dieses Projekt zu lobhudeln. Aber ich war sehr bewegt und begeistert von dem Konzert in den Blockinnenräumen gestern Abend. Ich habe uns als Publikum, aber auch die verschiedenen Reaktionen (oder Nichtreaktionen) der Passanten, der spielenden Kinder, der Zuhörer an den Wohnungsfenstern beobachtet. Da wurde tatsächlich etwas mit Raum, Wahrnehmung und Bewegung getan, was vielleicht dazu beiträgt, irgendetwas zu ermöglichen.

Ich habe nur sehr kurze Zeit in dieser Stadt verbracht und ich glaube, ich habe eine sehr spezielle Sicht auf sie. Aber wenn meine Intutitionen zutreffend sind, dann ist ein Projekt, wie es hier und jetzt gerade stattfindet, im Zusammenspiel mit den einzigartigen öffentlichen Räumen, die das Flächendenkmal bietet, etwas, was Erkenntnisse dazu bringen kann, was Architektur und Möglichkeiten miteinander zu tun haben.