SABINE SANIO

LEERE MITTE - KLÄNGE AUS DER DYSTOPIE
EMPTY CENTER – SOUNDS FROM DYSTOPIA


Bis weit ins 20. Jahrhundert erschien die Stadt und insbesondere der dortige öffentliche Raum als Ort, wo sich nicht nur Ideen, sondern auch Formen der Freiheit, Toleranz und Verständigung, ja, demokratische Lebensformen entwickeln konnten. Die Agora, der Marktplatz war nicht nur der geradezu programmatische Ort der Zusammenkunft, im Zusammenkommen entstand auch die Möglichkeit, Fragen des öffentlichen Lebens zu diskutieren und dabei Dissenz auszutragen und auszuhalten. Im 18. Jahrhundert entstanden an vielen Orten in Europa Vorstellungen von Toleranz, die nicht zuletzt durch die Anonymität der Großstadt gesichert wurde. Richard Sennett hat die Stadt dieser Epoche als Bühne beschrieben, auf der wir lernen, Rollen zu spielen und auch dem anderen das Recht zugestehen, bei diesem Spiel sein Privates verborgen zu halten.

Nicht zuletzt durch die Mediatisierung des Öffentlichen, die Verlagerung öffentlicher Debatten in unterschiedlichste Medien und in einen virtuellen öffentlichen Raum hat der öffentliche Raum in der Stadt viele seiner politischen Funktionen verloren. Heute wird er von Privatisierung bedroht, zugleich häufig vor allem als Ort privaten Konsums verstanden und erscheint zusehends nur noch als negativer Raum und Transitraum: Wir durchqueren ihn nur noch, um anderswohin zu gelangen. Zugleich sind viele Orte im öffentlichen Raum – Einkaufszentren, Flughäfen, Autobahnraststätten, U-Bahnstationen – zu Nicht-Orten mutiert, geprägt durch die Erfüllung bestimmter Funktionen lassen sie alltägliches Leben nur in beschränkter, teils strikt kontrollierter Form zu. Dieses dystopische Bild der modernen Großstadt ist auch deshalb überzeichnet, weil sich in Architektur und Stadtplanung längst eine Reihe von Konzepten und Aktivitäten der Veränderung dieser Situation verschrieben hat.

Dennoch möchte ich in meinem Vortrag einige künstlerische Projekte vorstellen, die mit der Einladung zur Entdeckung des öffentlichen Raums in der Stadt ein Bewußtsein für das Dystopische im modernen städtischen Leben entwickeln wollen. Es ist kein Zufall, daß die vorgestellten Projekte alle mit Klang arbeiten, einem ästhetischen Material, das den Charakter von Räumen und Atmosphären ebenso subtil wie nachhaltig bewußt machen, aber auch verändern kann.

Sabine Sanio leitet den Theorie-Schwerpunkt des Masterstudiengangs »Sound Studies and Sonic Arts« der Universität der Künste Berlin, an der sie seit 2009 unterrichtet. Seit 2019 leitet sie das DFG-Forschungsprojekt »Das Hören des Anderen. Zur Ästhetik des Realen in experimenteller Musik und Klangkunst«. Sie studierte Germanistik und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt sowie an der Freien Universität Berlin. Sie promovierte in Germanistik und habilitierte in Musikwissenschaft.